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Predigten

Wie weit geht Liebe?

Predigt von Br. Pascal Herold am 31. Sonntag im Jahreskreis.

Liebe Schwestern und Brüder!

Zwei Frauen streiten um ein Kind, das beide als das ihrige beanspruchen. Das 1. Buch der Könige des Alten Testamentes berichtet von diesem Streitfall, bei dem eine der Frauen versucht ihr eigenes im Schlaf erdrücktes Kind der anderen Frau unterzuschieben und deren Kind an sich zu nehmen. Beide rufen König Salomon als Richter an, der den Streit mit einem Urteil schlichtet, das wir als salomonisches Urteil kennen. König Salomo erkennt in der Auseinandersetzung die wahre Größe einer Mutter, die ihr Kind freigeben muss damit es nicht getötet wird. „Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind, und tötet es nicht!“, so die wahre Mutter.

Ist das nicht wahrhaftig-herzzerreisende Liebe? Sie will unter keinen Umständen, dass dem Leben des Kindes in irgendeiner Weise Schaden und Leid zugefügt wird, selbst aber seelischen Schmerz ertragen muss. Welche Wege muss die Liebe einer Mutter gehen?

Vor 6 Jahren hielt ich die Trauung eines jungen Paares. Ein Jahr danach wurde die Frau schwanger; das Paar sehnte sich nach Kindern und freute sich über das werdende Leben. Die Frau erkrankte jedoch 2 Monate nach Schwangerschaftsbeginn an Krebs. Die Ärzte rieten ihr die Schwangerschaft abzubrechen da sie sich einer Chemotherapie unterziehen sollte. Ihr war aber das Leben des Kindes überaus wichtig und stellte es über ihr eigenes Leben. Ihr Ehemann überliess ihr die Entscheidung, war aber mit der Situation zunehmend überfordert und trennte sich später von ihr. Nach der Entbindung konnte die Krebstherapie beginnen. Trotz hoffnungsvoller Anzeichen starb die junge Mutter ein Jahr nach Therapiebeginn.

Wie weit muss Liebe gehen um unter Beweis zu stellen, dass sie nicht allein ein Gefühl ist, sondern einhergeht mit Willenskraft und der Entschlossenheit zum Handeln, vor allem unter schwierigen Vorzeichen sich selbst vergisst wie in den erwähnten Beispielen?

Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe! Das sind die hervorgehobenen Worte des heutigen Evangeliums. „Welches Gebot ist das erste?“, fragt ein Schriftgelehrter Jesus. Er war vorher Ohrenzeuge geworden eines Streitgesprächs zwischen Jesus und den Sadduzäern zum Thema der Auferstehung der Toten. Jesus antwortet ihm zusammenfassend mit dem Gebot der radikalen Gottesliebe – „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“, einhergehend mit dem Gebot der Nächsten- und Selbstliebe. „Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“, unterstreicht Jesus seine Antwort. Der Schriftgelehrte sieht sich bestätigt und wiederholt im Wesentlichen Jesu Aussage mit der Ergänzung, dass dieses Gebot weit mehr Bedeutung hat als alle Arten von Opfern und Opfergaben. Jesus fühlt sich durch seine Reaktion verstanden und lobt ihn mit den Worten: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!“ Der Schriftgelehrte scheint die zusammenhängende Bedeutung der Liebe als Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe verstanden zu haben, ja zu kennen.

Was macht die Liebe zur Liebe? Sie ist ein Gebot, sagt uns die hl. Schrift, ein Gebot, das uns in dreifacher Weise aufgetragen ist und nicht nur je für sich steht, sondern in Beziehung ist - zu Gott, dem Nächsten und ebenso zu mir selber. Es hält die Erinnerung an seinen ursprünglichen Beweggrund wach, wofür es steht. Es schützt vor Vergesslichkeit und vor dem eigenen Unvermögen es immer durchtragen zu können. Es erfüllt sich nicht allein im formalen, rituellen Tun und läuft Gefahr bedeutungslos zu werden, wenn keine innere Erfahrung damit gemacht wird.

Als aufgetragenes Gebot ist die Gottesliebe mehr in unseren Köpfen, in unserem Denken und Verstehen ausgeprägt als in unseren Herzen mit seinen Gefühlsregungen und Empfindungen. „Ob wir Gott lieben, das kann man nicht wissen. Aber ob wir den Nächsten lieben, das merkt man“, so sieht es die heilige Teresa von Avila. Sie meint damit, dass die nicht einsehbare Gottesliebe sichtbar wird in allen unseren Handlungen, sich also manifestiert wie wir agieren in Beziehung zu allem Geschaffenen, zu allem Seienden der Schöpfung, explizit zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst, wofür wir stehen, wofür wir uns engagieren, wie wir denken und handeln, wie wir mit uns umgehen.

Jedes Kind ist zunächst an seine Mutter, an den Grund allen Seins gebunden. Es ist auf ihre allumfassende Fürsorge und Liebe, ja beider Elternteile, von Vater und Mutter angewiesen und verinnerlicht die Zuwendung als Lebensprinzip, als Regelbaustein für den eigenen Weg, den ein Kind in späterer Zeit mit der Ablösung von Eltern weitergehen muss. Es durfte ja von der elterlichen Liebe leben und sich schrittweise vom eigenen ich in das du/wir wandeln lassen. Kein Zertifikat braucht die Liebe unter Beweis zu stellen, sie ist und wirkt lebensspendend; sie ist keine Frage der Begabung und Voraussetzung, sondern des Verhältnisses zum Grund und Gegenstand der Liebe.

„Gott hat uns zuerst geliebt“, so sagt es der 1. Johannesbrief. Hier zeigt sich, was in Wahrheit Liebe ist. Sie setzt sich für den Menschen ein und wird in Person seines Sohnes Jesus zur Tat, ist also nah- und berührbar in Wort und Handlung, in menschlichen Gebärden und Ausdrucksweisen, versteht das ich und wird zum du, wer immer wir sind. Weil Jesus die Mutter-Vaterliebe annahm, sich tief geliebt wusste und sich selbst darin erkannte, konnte er für alle eintreten mit der Hingabe seines Lebens.

Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe! Ihnen ist die ich/du/wir-Bedeutung und ich/du/wir-Erfahrung gemeinsam. Weil Gott ist bin auch ich; weil ich bin, bist auch du; weil du bist, sind auch wir. Es ist die Erfahrung des inneren Lebensprinzips, das ermutigt, ja drängt aus sich herauszugehen und im du das Leben in gleicher Weise zu sehen und im besten Falle zu berühren. Ein Sich-Geben sieht das du wie sich selbst im Spiegelbild und kann sich an dem eigenen Bild ebenso freuen. Das fällt mitunter nicht leicht gerade wenn es um die ernsten und sehr schweren Lebensthemen geht wie ich zu Beginn der Predigt davon gesprochen habe.

Alle leben irgendwie von dieser Dynamik ob ich die Nächsten um mich herum kenne oder nicht. „Wir sind auf dieser Welt, um einander dabei zu helfen, diese Sache hier durchzustehen, was auch immer sie ist“, so der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut. Wenn ich „diese Sache“ mit Sache der Liebe bezeichne, betrifft sie uns alle und könnte auch eine Antwort auf die Frage „Was Liebe ist?“ sein, allerdings nüchtern definiert.

Wir sind auf dieser Welt, um einander dabei zu helfen, diese Sache der Liebe hier durchzustehen, was auch immer sie ist.