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Predigten

Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern

Predigt von Pater Matthias Balz OSB am 17. Sonntag im Jahreskreis in der Abteikirche Münsterschwarzach über Lukas 11,1-13

Liebe Schwester, liebe Brüder!

Das Vaterunser ist sicherlich das bekannteste christliche Gebet, das weltweit die allermeisten Christen regelmäßig beten. Wir lernen es schon im Kindesalter – selbst ich, der ich erst als Erwachsener getauft wurde, habe es bereits im Kindergarten gelernt. Das Vaterunser ist sicherlich auch deshalb so populär, weil es uns von Jesus selbst geschenkt wurde, wie wir gerade in der heutigen Perikope aus dem Lukasevangelium gehört haben. Einer seiner Jünger sagte zu Jesus: „Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat. Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, dein Name werde geheiligt.“ (Lk 11, 1f.)

Wir dürfen Gott Vater nennen, denn durch die Taufe und durch den Glauben an Jesus Christus sind wir zu Kindern Gottes geworden. Gott, unser Vater, kennt uns von Mutterleib an, er hat uns geformt, uns ins Leben gerufen. So beten wir hier immer dienstags in der Komplet mit dem Psalm 139: „Du hast mein Innerstes gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wundersam gemacht bin. Ja, das weiß ich: Wunderbar sind deine Werke!“ (Ps 139, 13f.)

In der Taufe hat Gott uns zugesagt: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein." (Jesaja 43,1) Und der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief: „Denn alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm 8, 14f.)

Das Vaterunser bringt uns schon mit den ersten Worten in eine sehr innige Beziehung zu Gott, und das, obwohl er ja der Allmächtige ist. Wir werden mit den ersten Worten in diese liebvolle Beziehung hineingenommen, in der wir Gott unseren Vater nennen dürfen. Das ist für mich zunächst einmal ein unglaubliches Geschenk – es ist Ausdruck der Ich-Du-Beziehung mit Gott, von der Martin Buber spricht.

Wir treten in einen Dialog mit dem unsichtbaren Gott: Auf der einen Seite ist die Rede von „dein Name, dein Reich, dein Wille - dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“. Und auf der anderen Seite sprechen wir: „unser tägliches Brot, unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“.
Wir treten mit dem Gebet ein in einen Dialog mit Gott. Dem Lobpreis stehen unsere Bitten gegenüber. Beides dürfen wir immer wieder neu vor Gott, unseren Vater bringen.

Im Kloster beten wir das Vater-unser morgens am Ende des Morgenlobes, dann während der Eucharistiefeier und am Ende des Abendlobes. Das Vaterunser ist uns ganz selbst-verständlich in Fleisch und Blut übergegangen. Und darin liegt die Gefahr:
Mit der Zeit schleift sich etwas ab, wird angenehm rund und verliert seine Ecken und Kanten, an denen wir uns vielleicht stoßen könnten.

Selbstverständliches wird selten hinterfragt. So wird gerne gesagt: „Das machen wir schon immer so!“ und „Das gab es noch nie!“ – selbst bei uns im Kloster! So laufen wir auch bei diesem so existentiell wichtigen Gebet Gefahr, dass es sich abrundet und geschmeidig wird, weil wir es wie selbst-verständlich und automatisch beten. Die Ecken und Kanten, an denen wir uns stoßen könnten, gehen verloren.

Eine solche Ecke im Vaterunser ist mir besonders wichtig – und eigentlich müsste an dieser Stelle bei mir der Fußboden immer etwas vibrieren, so wie bei einem modernen Assistenzsystem im Auto der Sitz zu vibrieren beginnt, wenn der Fahrer droht einzuschlafen. Ich meine die Stelle, an der wir beten: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Ich denke, der zweite Teil des Satzes hat es in sich.

Wie schwer ist wirkliche Vergebung. Wie schwer fällt es mir, jemandem wirklich zu vergeben, so dass nichts Negatives haften bleibt.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Was dies konkret bedeutet, erzählt Jesus im Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger im Matthäusevangelium im 18. Kapitel (Mt 18, 23-35): Der König hat Mitleid mit einem Diener und erlässt ihm die ganze Schuld. Der Diener aber lässt einen andern, der ihm Geld schuldet, ins Gefängnis werfen. Der König wird zornig und übergibt den Diener, dem er die Schuld er-lassen hatte, „den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe.“ Jesus beendet das Gleichnis mit den Worten: „Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt.“

Wenn ich im Vaterunser bete: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“, dann müsste bei mir eigentlich immer eine kleine rote Lampe aufleuchten, damit mir diese Worte nicht zu leicht und geschmeidig über die Lippen gehen – damit der Stein seine Ecken und Kanten behält, an denen ich mich stoße, um wachsamer zu sein.

Wie schwer ist wirkliche Vergebung. Wie schwer fällt es mir, jemandem wirklich zu vergeben, so dass nichts Negatives haften bleibt.

In früheren Zeiten wurden Schuld-scheine ausgestellt, um zu dokumentieren, dass einer dem anderen etwas schuldete. Wurde die Schuld getilgt, dann wurde der Schuldschein zerrissen und weggeworfen.
Wie oft erwische ich mich selbst dabei, dass ich auf einen Schuldschein lediglich den Stempel „erledigt“ drücke und ihn dann feinsäuberlich in der obersten Schublade meines Gedächtnisses aufbewahre, um immer wieder einmal darauf schauen zu können.
Dann kommen immer wieder Erinnerungen an die Verletzungen in mir hoch und wirklicher Friede kann sich nicht einstellen.

Ein buddhistischer Weisheitslehrer hat einmal sinngemäß gesagt: „Der zweite Pfeil, der in eine Wunde trifft, schmerzt weit mehr als der erste Pfeil. Der zweite Pfeil ist das Anhaften an der vorhandenen Verletzung und am Schmerz.“

Wenn ich also den Schuldschein nicht zerreiße, sondern aufbewahre – wenn ich an der Verletzung und am Schmerz anhafte, dann trifft mich der Pfeil ein zweites, drittes, viertes Mal. Bis dahingehend, dass jemand mich noch immer verletzen kann, wenn er schon längst gestorben ist.

Wie schwer fällt mir wirkliche Vergebung. Dies wird besonders dann schwierig, wenn ich merke, dass der andere sein verletzendes Verhalten nicht ändert. Auch hier ist Jesus eindeutig – er verlangt, dass wir immer wieder neu vergeben sollen.

Bei Mt 18, 21f. heißt es: „Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.“ … so die Einheitsübersetzung.

Andere Übersetzungen sprechen von siebzigmal siebenmal – das hieße dann: 490mal zu vergeben. Im griechischen Original ist die betreffende Formulie¬rung unklar und lässt unterschiedliche Deutungen zu. Für die Übersetzung „77mal“ spricht allerdings eine Stelle im Alten Testament. Im 4. Kapitel im Buch Genesis sagt Lamech, ein Nachkomme Kains, zu seinen Frauen in Bezug auf Vergeltung: „Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ (Gen 4, 23f.)

Die Vergebung ist die Umkehr der Eskalation von Rache, wie sie im Buch Genesis geschildert wird. Daher vielleicht auch die Aufforderung, 77mal zu vergeben. Es geht weniger um die konkrete Zahl, sondern um die unermüdliche Vergebung, um nicht wieder in die Abgründe der Rache zurückzukehren.

Natürlich ist das nicht immer einfach. Wie sollen wir jemandem verzeihen, der uns so tief verletzt hat, dass wir die zugefügten Verletzungen nur durch therapeutische Hilfe heilen können? Und wie sieht es aus, wenn wir auf Gewaltverbrecher und Mörder schauen? Sind wir als Menschen überhaupt in der Lage anderen zu vergeben, wenn sie Gewalt ausüben und Menschen töten? Wenn es mir schon im Kleinen schwerfällt, wirklich zu vergeben, wie kann ich einem Menschen verzeihen, der zum Gewaltverbrecher und Mörder geworden ist?

Hass und Rache führen nur in die Spirale von noch mehr Gewalt. Das Anhaften an Verletzungen führt nur zu weiterem Schmerz.

Wir dürfen mit unseren Schwächen und dem Unvermögen, wirklich vergeben zu können, zu Gott kommen. Wir dürfen ihn, den Richter über die Lebenden und die Toten, um Vergebung bitten für uns und unser Unvermögen, aber auch für die Menschen, denen wir einfach nicht vergeben können, weil ihre Tat zerstörerisch oder sogar tödlich war. Im Vaterunser dürfen wir Gott, dem barmherzigen Vater, alles übergeben. Wenn wir es dann auch schaffen, stellvertretend für unsere Feinde zu beten, werden wir lernen, wirklich loszulassen und zu mehr innerem Frieden finden.

Gleich bei der Kommunion bin ich ganz persönlich eingeladen, alle Schuldscheine, die ich nur mit dem Stempel „erledigt“ versehen und dann in der obersten Schublade meines Gedächtnisses aufbewahrt habe, Gott hinzuhalten, damit er sie für mich zerreißt und endgültig vernichtet.

Ich habe die feste Hoffnung und das Vertrauen, dass Gott mir helfen wird, nicht an den Verletzungen und dem Schmerz anzuhaften, damit nicht immer wieder neu ein Pfeil in die gleiche Wunde trifft.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Das ist eine Herausforderung auf meinem Lebensweg, der ich mich immer wieder neu stellen muss. Dann behält das Vaterunser seine Ecken und Kanten – auch wenn ich es mehrfach täglich bete.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.


Pater Matthias Balz OSB