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Predigten

Durchlässig für Gott

Predigt von Pater Anselm Grün OSB am 16. Sonntag im Jahreskreis in der Abteikirche Münsterschwarzach über Lukas 10,38-42 Marta und Maria

Liebe Schwestern, liebe Brüder!

Die Geschichte von Marta und Maria löst bei den Hörern und Hörerinnen die verschiedensten Emotionen aus. Hausfrauen regen sich auf, dass Maria, die nichts tut, sondern einfach nur zuhört, von Jesus gelobt wird, während Marta eher einen Tadel einstecken muss. Männer und Frauen in Firmen oder Vereinen oder Gemeinschaften, die sich für die Gemeinschaft einsetzen und anpacken, fühlen sich entwertet. Die heftigen Reaktionen auf diese Geschichte zeigen, dass sie in jedem von uns etwas wachruft, was wir oft unter der Oberfläche unserer Aktivitäten verborgen halten. Jesus lockt das in uns hervor, was wir lieber hinter einer Fassade von Fleiß und Leistung verstecken.

Wir können die Geschichte auf zwei verschiedene Weisen auslegen. Die erste Weise sieht in Marta und Maria zwei Typen. Beide Typen werden in einer Firma, in einer Gemeinschaft, in der Familie gefragt. Beide können sich ergänzen. Aber beide können sich auch gegenseitig blockieren und einander mit Vorwürfen überschütten. Sie werden sich nur dann ergänzen, wenn sie die fremden Seiten, die sie im andern wahrnehmen, auch in sich selbst erkennen. Dann müssen sie das Fremde, das sie im andern sehen, nicht bekämpfen. Sie lassen sich von dem Fremden im andern an das Fremde in sich erinnern und söhnen sich damit aus. So werden sie gemeinsam zum Segen für die Gemeinschaft.

In jeder Firma, in jeder Gemeinschaft, in jedem Verein gibt es Marta- und Maria-Typen. Beide haben eine wichtige Aufgabe. Es geht nicht darum, die einen gegen die anderen auszuspielen. Es braucht die Marta-Typen, die einfach anpacken, die sofort sehen, was zu tun ist, und es dann einfach tun. Aber es braucht auch die andern, die wie Maria sich Zeit nehmen, genau hin zu hören. Was sind die Sehnsüchte der Menschen? Firmen ohne Mariatypen produzieren am Markt vorbei. Die Kirche agiert auch an den Bedürfnissen der Menschen vorbei, wenn sie nicht wie Maria auf das hört, was die Menschen wirklich bewegt. Ein Priester erzählte mir, er halte mit großer Kraftanstrengung einen großen Seelsorgsapparat am Laufen, den immer weniger in Anspruch nehmen. In der Kirche kennen wir die vielen pastoralen Konzepte, die ständig entworfen werden. Aber man hört zu wenig auf die wahren Sehnsüchte der Menschen. So findet man nicht die Sprache, die ihre Herzen berührt. Das gilt auch für die Familien. Wenn die Eltern viel mit den Kindern unternehmen, ohne sich hinzusetzen und zu meditieren, was die Kinder wirklich brauchen, geht ihr ganzer Aufwand an den Kindern vorbei.

Marta- und Mariatypen sind also für jede Gemeinschaft wichtig. Aber es ist bei uns heute genauso wie in der Geschichte von Marta und Maria. Marta reagiert aggressiv auf Maria. Sie macht Jesus Vorwürfe. Er solle nicht mit ihrer Schwester sprechen. Er solle ihr vielmehr sagen, dass sie ihr helfen solle. Sie überlässt die ganze Arbeit, den ganzen Dienst ihr allein. Diese Aggressivität zeigt, dass Marta nicht ganz zufrieden ist mit ihrer Arbeit. Sie überlässt sich nicht selbstlos der Arbeit, sondern sie hat Nebenabsichten. Sie möchte gut arbeiten, damit sie vor Jesus und seinen Jüngern als gute Gastgeberin dasteht. Sie möchte in ihrer Arbeit von Jesus beachtet werden. Doch Jesus wendet sich mehr ihrer Schwester zu. Marta fühlt sich benachteiligt. Sie darf alles tun. Aber die Zuwendung bekommt die Schwester. Wir alle kennen diesen Mechanismus in uns. Wir arbeiten gerne. Aber wir möchten auch beachtet werden. Wir möchten glänzen und dafür Zuwendung und Lob erhalten. Und wenn dann andere die Zuwendung bekommen, die sich Zeit nehmen für das Gespräch, dann werden wir eifersüchtig und aggressiv. Wir brauchen auch in unseren Gemeinschaften Jesus, der dafür sorgt, dass Marta- und Mariatypen gut miteinander arbeiten und dass beide die notwendige Zuwendung und Bestätigung erhalten. Dann könnten Marta und Maria sich gegenseitig ergänzen und zum Wohl der Gruppe zusammen arbeiten.

Man kann Marta und Maria aber auch als zwei Seiten in jedem von uns sehen. Jeder von uns trägt in sich Marta und Maria. Die Marta ist die aktive Seite in uns. Wir denken, wir wüssten schon, was zu tun ist. Und dann packen wir an. Wir tun viel für andere. Wir setzen uns für sie ein. Wir setzen uns für die Gemeinschaft ein. Aber wir hinterfragen gar nicht, ob all das, was wir tun, notwendig ist. Vor lauter Arbeitswut überhören wir, was uns wirklich voranbringen könnte. Und wir überhören unsere eigenen inneren Impulse, die uns sagen, dass wir auch mal Zeit für uns brauchen, dass wir auf die leisen inneren Stimmen in uns hören sollen. Die Marta in uns ist normalerweise lauter als die Maria in uns. Denn die Marta kann etwas vorweisen. Wir tun ja soviel. Alles ist so nützlich. Wir sorgen für die Gäste, wir sorgen für die Bedürftigen und Verletzten. Es ist alles gut, was wir tun. Aber vor lauter Arbeiten übersehen wir, was eigentlich dran ist. Daher muss Jesus für die Maria in uns Partei ergreifen. Er muss ihr Recht verschaffen. Wir brauchen Zeiten der Stille, Zeiten des Nachdenkens, Zeiten des Hörens auf die innere Stimme in uns. Wir sollten immer wieder einmal innehalten, um im Innern Halt zu finden, um zu spüren, ob unser Leben noch stimmt oder ob wir an uns und unserer Wahrheit und Berufung vorbeileben. Wir sollten auf Gott hören, den wir nicht besitzen können, sondern der uns als der Fremde, als der Gast in Frage stellt.

Jeder von uns spürt in sich die Marta und die Maria. Doch die Marta in uns wird oft von der Maria in uns verunsichert. Und daher reagieren wir genauso aggressiv auf sie wie die Marta in der lukanischen Erzählung, etwa mit Argumenten wie: "Es gibt jetzt einfach keine Zeit zum Nachdenken. Jetzt ist die Zeit des Handelns. Das Nachdenken ist ein narzisstisches Kreisen um sich selbst." Wir entwerten die Maria in uns. Doch Jesus stärkt die Maria in uns. Es ist gut, wenn wir uns Zeit nehmen, genau hinzuhören, was Gott von uns will, wie die Arbeit auf Dauer sinnvoll gestaltet werden und was wir für die andern wirklich tun könnten, wie wir ihre Bedürfnisse am besten erfüllen könnten. So lädt uns Jesus heute ein, einen guten Ausgleich zwischen Marta und Maria in uns zu finden.

Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit, die Geschichte zu deuten. Meister Eckehart, der deutsche Mystiker und Querdenker legt die Erzählung von Marta und Maria quer zu allen andern Auslegungstraditionen aus. Damals wurde die Geschichte immer als Beweis verstanden, dass das kontemplative Leben besser ist als das aktive. Meister Eckehart hat damals in vielen Klöstern gepredigt. Und er hat sich geärgert über Nonnen und Mönche, die vor lauter Versenkungsmystik narzisstisch um sich kreisten, sich über die andern stellten und andern die Arbeit überließen. So lobt er Marta und kritisiert Maria. Maria muss erst Marta werden, bevor sie wirklich Maria werden kann. Nur eines ist wichtig. Das Eine ist ein zentraler Begriff griechischer Philosophie. Das Eine ist für Meister Eckehart Gott. Aber auf Seiten des Menschen ist das Eine, das notwendig ist, die Abgeschiedenheit, die Gelassenheit, die Freiheit vom Ego. Wenn der Mensch frei ist vom Ego, kann Gott in ihm wirken. Maria trennt die Kontemplation von der Aktion. Die Bitte Martas, Jesus solle Maria auffordern aufzustehen, versteht Meister Eckehart so, dass Maria aufstehen soll, um vollkommen, um wesentlich zu werden. Denn - so sagt Meister Eckehart - "als sie bei den Füßen unseres Herrn saß, da war sie nicht Maria: wohl war sie es mit Namen, sie war es aber nicht im Sein (im Wesen)." Maria soll wesentlich werden wie Marta, die mitten im Tun in Gott sich gründet, die so abgeschieden ist vom eigenen Ego, dass Gott in ihr und durch sie wirken kann. Die wahre Spiritualität zeigt sich darin, dass wir im Wirken ganz und gar durchlässig sind für Gott. Das versteht Benedikt auch unter ora et labora. Die Arbeit ist ein Test, ob wir uns wirklich auch im Gebet ganz und gar Gott hingeben. Gott ist für Meister Eckehart der, der wirkt. Wir sollen in allem so offen sein für ihn, dass er immer durch uns wirken kann.

In der Eucharistiefeier geht es jetzt auch um die Einheit, um das eine Notwendige. Christus durchdringt unseren Leib und unsere Seele mit seiner Liebe. Er eint in uns, was in uns oft getrennt ist. Er möchte durch unseren Leib, durch unser Tun und Denken, und durch unsere Seele, durch das reine Sein, durch unser Wesen hindurch in diese Welt hinein wirken. Er möchte, dass seine Liebe und sein Licht durch unsern Leib und unsere Seele hindurch strahlen und diese Welt erhellen und verwandeln. Amen.

Pater Anselm Grün OSB