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Predigten

Jesus geht es nicht um Macht

Predigt von P. Wolfgang Sigler OSB am Christkönigsfest.

Liebe Schwestern, liebe Brüder im Herrn,

sind Sie schon einmal einem König begegnet, oder einer Königin? Ein paar gibt es ja noch. Vielleicht haben Sie sich schon an König Charles III gewöhnt, oder bleibt für Sie Queen Elisabeth II die „wahre Königin“ von England? Möglicherweise gibt ja demnächst einen König William V. Sonst, sieht man von aktuellen Seifenopern ab, sind Könige nur noch im Schachspiel und auf Spielkarten alltägliche Vorkommnisse.

In unserer demokratischen Normalität und in der Popkultur rutschen die Königstitel eher ins Tierreich: der König der Löwen, King Kong, der Tyrannosaurus Rex. Solche „Könige“ kommen ohne Krone aus — ihre Herrschaft beruht darauf, dass sie die Stärksten sind. | Solch ein „König“, oder vielmehr Oligarch und Diktator ist Pontius Pilatus. Er war ein vom Kaiser Tiberius eingesetzter Präfekt, der mit viel Gewalt die Provinz Syria beherrschte. Von ihm gefragt zu werden: Denkst du, du bist der König? — das ist keine ungefährliche Frage. Sie heißt wahrscheinlich: Bist du ein Rädelsführer, der mir die Macht streitig machen will? Von dieser Frage ist der Weg zur Kapitalstrafe des Kreuzes nicht weit, über dem stehen wird: Der Nazarener Jesus, „König“ der Juden.

Jesus aus Nazareth aber antwortet auf die Frage nach dem Königtum mit einer Gegenfrage: Sagst du das, oder haben dir das andere gesagt? Ist es deine Frage, oder ist es ängstliches Kalkül – ein Kalkulieren damit, was andere denken? Suchst du wirklich das Gespräch mit mir oder geht es nur um ein Austarieren, ob ich dir gefährlich werden kann?
Dieser zweite Teil der Frage spitzt den Dialog auf die Machtfrage zu: Einer wie Pilatus fragt mit einem schielenden Auge auf seine Karriere, er fragt nach Jesu Rückhalt im Volk und nach einem möglichen Willen zum Umsturz.

Jedoch „von dieser Welt“ stammt Jesu Königtum nicht. Es geht nicht einfach um Macht. Es geht auch nicht um einen Herrschaftsanspruch von Gottes Gnaden, der im Übrigen bei den herkömmlichen Vorstellungen von Herrschaft stehen bleibt. Es geht nicht einfach darum, dass Jesu Macht — statt von einem fernen Kaiser in Rom — nun eben von einer Gottheit abgesichert wird, die mächtiger ist. Jesus Christus, Super Star – und dann eben auch Super-König.

Ich glaube, wir müssen Jesu Königtum grundsätzlich anders denken. Denn Jesus verbindet sein Königtum mit der Zeugenschaft für die Wahrheit. Das sind die beiden Zentralbegriffe des heutigen Evangeliums: Königtum und Wahrheit. Damit lässt sich seine Frage zu Beginn nochmals anders verstehen. Dann richtet sie sich an mich persönlich, und vielleicht fühlen auch Sie sich angesprochen, wenn Jesus fragen würde: Fragst du mich, aus der Tiefe deines Herzens heraus, oder schielst du auf andere? Suchst du wirklich nach einer tieferen Wahrheit in deinem Leben, oder nimmst du für wahr, was dir gerade nutzt?

Wohlgemerkt — Macht und Wahrheit schließen sich nicht aus. Es gab Königinnen und Könige, Herrschende, die die Wissenschaften vorantrieben und sich der Philosophie widmeten. Auch heute greifen unsere politischen Organe, Parlamente und Regierungen auf die Expertise von professionellen Wahrheitssuchern aus der Wissenschaft zurück. Und mit gutem Grund.

Aber dieses Miteinander von Macht und Wahrheit ist kein Selbstläufer. Allein schon, was wir als gesichertes Wissen betrachten, ist auch eine Machtfrage. Nicht nur, aber auch. Es gibt Menschen, die entscheiden, was breitenwirksam veröffentlicht wird, Verleger und Zeitungen, Fernsehintendanten und Redaktionen. Heute verlieren zwar solche Gatekeeper ihre Macht allmählich.
Denn die Macht der Information zerstreut sich einmal quer über das Internet. Hie und da befreit das. Es nimmt aber auch die Ordnung weg, welche diese Gatekeeper geschaffen hatten. Es entsteht ein Durcheinander aus verlässlichen und zweifelhaften Informationen. Es ergibt sich eine höhere Gefahr, dass wir wirkliche Fachleute nicht mehr von Quacksalbern unterscheiden. „Was ist Wahrheit“ – fragt Pilatus einen Satz weiter nach dem heutigen Evangelienabschnitt.

Wenn das Wahre, auf das wir uns einigen können, weniger wird, erstarkt diese Frage: Was ist schon wahr? Das führt zu Verunsicherung und zu einem gewissen Unbehagen. Immer stärker wird heute die Befürchtung, auf gezielte Missinformation und Deep Fakes hereinzufallen. Da spüren wir die Macht der Information vielleicht am stärksten. Man muss sich nicht einmal mehr besonders auskennen, um den Computer täuschend echte Foto- und Videobearbeitungen errechnen zu lassen. Selbst Stimmen lassen sich mittlerweile gut simulieren — in bisher ungesehenem, oder vielmehr: unerhörtem Ausmaß. Wir können Bildern und Filmen nicht mehr intuitiv glauben wie bisher. Das verunsichert. Auf was kann man sich denn überhaupt noch verlassen? Oder mit Pilatus gesprochen: Was ist Wahrheit?

Manche mögen diese Verunsicherung. Sie nutzen das Misstrauen und die Unwahrheit als Machtfaktor, indem sie andere verunsichern. Den Ausdruck „Fake News“ benutzen zuerst die, die auf die Wahrheit pfeifen und lieber alles, was Kritik äußert, als Lügenpresse abtun: „Du bekommst sowieso keine verlässlichen Informationen, alles Fake News.“ [Und dann aber: reih dich hinter mir ein, glaub lieber mir.]

Wir haben es nicht leicht in dieser Situation, müssen nachlesen, überprüfen, beständig hinterfragen und abschätzen lernen, was glaubwürdig ist. Doch wenn wir uns nicht ohne Gegenwehr manipulieren lassen wollen, braucht es dieses anstrengende, manchmal lästige Nachfragen. Es gehört dazu zur Suche nach Wahrheit.
In dieser Gemengelage ist die Frage Jesu durchaus eine Hilfe, denn sie hilft uns bei der Selbstprüfung: Suchst du wirklich nach Wahrheit, oder nimmst du für wahr, was dir nutzt?

Diese Wahrheit steht in einer kritischen Spannung zur Macht. Es ist eine Wahrheit, die Macht und herrschende Verhältnisse hinterfragt. Es ist eine irgendwie fragilere und zugleich tiefere Wahrheit, die sich erweist statt durchgesetzt zu werden. Sie bewahrheitet sich selbst.

Diese Art von Wahrheit lässt sich als Gegenmacht denken, als Widerstand und Korrektiv. Als Prüfstein, der härter ist als Schwerter und Kugeln. Wenn der gefürchtete Diktator noch so fest im Sattel sitzt, wenn er sich versteigt zu behaupten, die Sonne bliebe zu seinem Geburtstag in der Mitte des Himmels stehen - sie wird es nicht tun. Weil nicht wahr ist, was er sagt. Der Kaiser trägt keine neuen Kleider, wenn er eigentlich nackt herumläuft. Diese nackte Wahrheit lässt sich verdecken und kollektiv verschweigen, aber sie ist zäh - weil sie wahr ist. Sie widersteht der Machtfrage und eröffnet einen anderen Weg. Diese Wahrheit herrscht nicht. Sie fragt. Das Königtum Jesu ist kein Basta, sondern eine Frage.

Irgendwie heißt das auch: Gott mutet uns dieses Suchen-Müssen nach der Wahrheit zu. Wer sich mit Gott wirklich einlässt, begibt sich fast notwendig auf diese auch mal ungemütliche Reise ins Ungewisse. Er lässt sich auf eine Wahrheit ein, die tiefer ist, als sich in einer Lebensspanne ergründen lässt.

An anderer Stelle des Johannes-Evangeliums sagt Jesus sogar: Ich bin die Wahrheit. Neben aletheia, dem griechischen Wort für Wahrheit, finden wir dort wie auch an der heutigen Evangeliumsstelle das symbolträchtige EGO AIMI wieder, das Ich-bin – ein Wortpaar, welches das ganze Evangelium hindurch auftritt.
„Ich bin“ das Brot des Lebens, „ich bin“ das Licht der Welt, „ich bin“ der Weg, die Wahrheit, das Leben, die Tür, der gute Hirt, die Auferstehung und das Leben, der wahre Weinstock. In der griechischen Fassung des Ersten Testaments, der sogenannten Septuaginta, erklingt dieses Wort als Stimme aus dem Brennenden Dornbusch: Ich bin. Es ist der Gottesname, den man aus Ehrfurcht nicht ausspricht. Ich bin Adonai, Ha-Shem, El Shaddai.

Und – ein König bin ich. Das Wort vom Königtum Christi erklingt damit aus der ohnehin schillernden Wolke von Ich-bin-Worten beim Evangelisten Johannes. So verschwimmt es in einem großen Gesamt aus einer Vielzahl von Bildern. Es ist eine tiefe Wahrheit — eine solche, auf die wir keinen Zugriff haben, die wir uns nicht nutzbar machen können. Das Königtum Christi ist keine Machtoption. Im Gesamt des Johannes-Evangeliums ist es eine weitere Bestätigung, dass wir das mühsame Fragen nicht loswerden.

Es ist ein Gegenbild, das die aktuell geltende Ordnung anfragt — und doch eine Zusage macht: Im Prozess des Suchens und Fragens werde ich bei euch sein. Das ist tröstlich in den vielen Fragen von Rente und Gesundheitswesen, Umweltschutz, Zukunft der Kirche, Krieg und Frieden, in denen wir stehen. Durch die Zeiten hindurch kommen und gehen Länder und Reiche, auch die Gestalt der Kirche wandelt sich. Wie auch eine jede und ein jeder von uns dem Wandel des Lebens unterliegt.

Aber eines bleibt. Wenn wir fragen, wahrhaftig fragen, wird Gott antworten: Ich bin da.