Jesus stellt keine Schuldfragen
Predigt von P. Anselm Grün OSB am Passionssonntag.
Das Wort Jesu „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ ist heute zu einem geflügelten Wort geworden. Aber gerade in unserer aufgeregten Zeit, in der wir schnell bereit sind, über einen Menschen den Stab zu brechen, wäre dieses Wort für uns eine Herausforderung, erst einmal inne zu halten und das eigene Herz zu erforschen.
Es ist eine spannende Szene, die Johannes schildert. Die Schriftgelehrten und Pharisäer bringen eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden ist. Auf Ehebruch steht nach dem jüdischen Gesetz die Todesstrafe. Doch die Strafe galt nur der Frau, nicht dem Mann. Das jüdische Gesetz stand ganz auf Seiten des Mannes. Doch Jesus tritt für die Frau ein.
Die Pharisäer benutzen die Frau, um Jesus eine Falle zu stellen. Sie bringen Jesu in eine scheinbar aussichtslose Situation. Sie sagen: Mose hat vorgeschrieben, diese Frau zu steinigen. Also sollen wir sie steinigen oder nicht? Ganz gleich wie Jesus antwortet, hat er verloren. Wenn er Ja sagt, sind alle seine Jünger enttäuscht. Wenn er nein sagt, wird er sofort verhaftet. Wir kennen solche Situationen, in der wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Jemand zwingt uns, uns sofort für oder gegen etwas zu entscheiden oder unsere klare Meinung zu sagen. Und wir haben den Eindruck, ganz gleich wie wir uns entscheiden oder was wir sagen, es ist immer verkehrt.
Doch wie reagiert Jesus in dieser Situation? Er bückt sich und schreibt in den Sand. Er taucht einfach ab. Er lässt sich nicht in die Enge treiben. Er kritzelte etwas in den Sand, bis in seinem Innern eine kreative Lösung auftauchte. Man könnte das Schreiben Jesu auch so deuten: Er verweist die Pharisäer auf ihre eigene Erdhaftigkeit. Auch sie sind von der Erde genommen, mit den gleichen Trieben und Begierden wie die Frau. Jesus zeichnet in den Staub die Wahrheit der Pharisäer, damit sich ihrer Wahrheit stellen. Doch die Pharisäer weigern sich, im Schreiben Jesu ihre eigene Erdhaftigkeit und Menschlichkeit anzuerkennen. Sie reden weiter hartnäckig auf Jesus ein.
Doch Jesus richtet sich auf und sagt diesen genialen Satz: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ Jetzt steht Jesus nicht mehr mit dem Rücken zur Wand. Jetzt ist er der Handelnde, jetzt fordert er die Pharisäer heraus. Sie sollten sich ihrer eigenen Wahrheit stellen, anstatt ihre verdrängten sexuellen Phantasien auf die Frau zu richten. Jesus kontrolliert das Verhalten der Ankläger nicht. Er überlässt jeden einzelnen seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Gewissen. Immerhin spricht das für die Pharisäer, dass keiner den Stein wirft. Keiner hat sich getraut, sich als sündenlos hinzustellen.
Jesus bückt sich wieder und vertraut dem Wort, das er zu den Pharisäern gesprochen hat. Als er sich nach einiger Zeit wieder aufrichtet, ist er allein mit der Frau. Alle haben sich schweigend verzogen. Jesus spricht die Frau an: „Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?“ Als die Frau antwortet: „Keiner Herr“, sagt Jesus zu ihr: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Augustinus deutet diese Stelle so: „Zurückgeblieben sind zwei: misera et misericordia, die Arme und das Erbarmen, die Arme und der Barmherzige, der ein Herz hat für die Arme.
Jesus stellt die Schuldfrage gar nicht. So befreit er die Frau aus ihrer Verlegenheit. Wenn die Frau sagt: „Keiner Herr“ hört man gleichsam einen Stein von ihrem Herzen fallen. Da ist einer, der sie nicht verurteilt, der gar nicht die Frage nach ihrer Schuld stellt. Jesus entschuldigt ihr Verhalten nicht, aber er traut ihr zu, dass sie von nun an nicht mehr sündigt, dass sie nicht mehr an ihrer eigenen Wahrheit vorbeilebt, sondern so lebt, wie es ihrem Wesen und ihrer Würde entspricht. Jesus zwingt sie nicht nur Reue, nicht zur Aufgabe ihrer Selbstachtung. Er sieht ihre Würde und traut ihr zu, dass sie ihrer Würde gemäß leben wird.
Wenn wir das Evangelium für uns meditieren, können wir uns in alle drei Personengruppen hineinversetzen. Wir sind die Pharisäer, die oft genug unsere verdrängten Bedürfnisse, gerade auch unsere sexuellen Wünsche auf andere projizieren. Doch wenn wir Jesus begegnen, der uns herausfordert, uns der eigenen Wahrheit zu stellen, kann in uns Verwandlung geschehen.
Wir sind die Sünderin. Denn keiner von uns ist ohne Sünde. Wir alle machen immer wieder einmal Fehler. Jesus will uns keine Schuldgefühle machen, sondern uns zur Schuldeinsicht führen. Schuldgefühle lähmen und schwächen uns. C.G Jung meint, manche wälzen sich in den Schuldgefühlen wie jemand an einem Wintermorgen sich in seiner Daunendecke wälzt anstatt aufzustehen. Die Schuldeinsicht führt zu einem neuen Verhalten. Und das traut uns Jesus zu. Er befreit uns von unseren Selbstvorwürfen und richtet uns auf. Wir müssen nicht unser Leben lang im Bußgewand herum laufen. Jesus traut uns zu, neu anzufangen. Weil er uns bedingungslos annimmt, werden wir fähig, uns trotz unserer Schuld anzunehmen und aufrecht unseren Weg weiter zu gehen.
Wir dürfen uns auch mit Jesus identifizieren. Wie Jesus geraten wir auch manchmal in Situationen, in denen wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Da will uns einer jetzt im Augenblick zu einer Entscheidung drängen oder zu einer bestimmten Meinung. Doch wir spüren: Wir können noch soviel nachgrübeln, wir können nur das Verkehrte tun oder sagen. Dann sollten wir wie Jesus einfach abtauchen, in unser Herz spüren und dem trauen, was unser Herz sagen. Wie Jesus sollten wir selbst das Heft in die Hand nehmen: Morgen werde ich mich entscheiden, morgen sage ich, was meine Meinung zu diesem Thema ist.
Und wir können von Jesus lernen, wie wir Menschen begleiten, die in Schuld geraten sind. Wir sollten ihnen nicht noch mehr Schuldgefühle aufdrängen, sondern sie zu einer klaren Schuldeinsicht führen, die ihnen das Vertrauen schenkt, jetzt neu zu beginnen. Anstatt sich ständig anzuklagen, sollten sie aufrecht ihren Weg weiter gehen.
Wenn wir in der Kommunion Jesus empfangen, dann spricht er zu uns die beiden Worte: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Er konfrontiert uns mit unserer Wahrheit. Aber zugleich spricht er zu uns. „Ich verurteile dich nicht. Geh und lebe so, wie es deinem wahren Wesen entspricht. Amen.