Göttliches Leben erneuert alles in uns
„Mit den Worten des aaronitischen Segens möchte ich Ihnen allen ein gesegnetes Neues Jahr 2016 wünschen. Der Herr möge Sie segnen und behüten. Und er lasse sein gnädiges Antlitz über Ihnen leuchten. Eine evangelische Religionspädagogin nennt den aaronitischen Segen einen mütterlichen Segen. Wie die Mutter das Kind am Morgen aufweckt und es anlächelt, so möge Gottes zärtliches Angesicht über uns aufstrahlen und uns den ganzen Tag begleiten.
Die Kirche feiert an Neujahr das Fest der Gottesmutter Maria. Sie stellt zwischen Weihnachten und Neujahr eine Verbindung her. Weihnachten - so heißt es in einer Weihnachtspredigt von Papst Leo - heißt: Gott feiert mit uns einen neuen Anfang. Jedes Fest des Kirchenjahres ist ein heilsames Fest. Auch das heutige Fest ist ein heilendes Fest. Es ist heilsam für uns, wenn wir uns vorstellen: Ich bin nicht festgelegt durch die Erziehung, in der manches schief gelaufen ist, ich bin festgelegt durch die Fehler, die mir unterlaufen sind, ich bin nicht festgelegt durch verpasste Chancen, durch falsche oder nicht getroffene Entscheidungen. Neujahr ist die Verheißung, neu anzufangen. Anfangen meint: ich nehme mein Leben selbst in die Hand. Ich packe an. Das Neue Jahr ist die Verheißung, dass ich mein Leben auf neue Weise anpacke, dass ich die Aufgaben anpacke, die mich erwarten.
Das Neue hat immer eine eigene Faszination. Allerdings kann das Neue auch Angst machen. Die Griechen haben das so erfahren. Denn sie kennen zwei Worte für neu: neos und kainos. Vom Wort "neos" kommt das lateinische novus, auch der Novize und das deutsche Wort: neu. Neos kann auch den Neuling bezeichnen, der sich noch nicht auskennt, so wie der Novize sich am Anfang noch nicht im Kloster auskennt. Oder wenn in einer Firma ein neuer Geschäftsführer kommt, dann sehen wir in ihm auch oft nur einen Neuling, der zwar alles neu machen will, aber letztlich alles nur zum Schlechteren verändert. Wir sagen: Neue Besen kehren gut. Aber manche neuen Geschäftsführer wirbeln mit ihrem Kehren nur unnötigen Staub auf und verpesten die Atmosphäre. Wenn wir uns ein gutes Neues Jahr wünschen, dann denken wir eher an das griechische Wort "kainos". Kainos meint das Neue, in dem die Verheißung steckt, dass alles besser wird, ganz neu wird, ein neuer Anfang. Wir spüren die Faszination des Neuen, wenn wir in ein neues Auto steigen oder ein neues Kleid anziehen. Jesus spricht immer von kainos: Er schenkt uns in seiner Botschaft neuen Wein, der in neue Schläuche gegossen werden muss. Er schließt mit uns einen neuen Bund. Jedes Mal hören wir bei der Wandlung die Worte: "Das ist der Kelch des Neuen und Ewigen Bundes." Und Jesus gibt uns ein neues Gebot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Der Apostel Paulus war von dem Neuen begeistert, das uns Christen auszeichnet. Er sagt, wir sollten in der Neuheit des Lebens wandeln (Röm 6,4) Und wir sollen den neuen Menschen anziehen. (Eph 4,24)
In der Menschwerdung Gottes aus Maria, der Jungfrau, hat Gott unsere menschliche Natur erneuert. Wenn wir ein Haus renovieren, erneuern, so ziehen wir mit einem Gefühl von neuem Anfang ein. Es wird alles besser. Weihnachten ist die Zusage, dass Gott uns erneuert, renoviert hat. Er hat in unsere verbrauchte, müde gewordene, durch die Sünde beschmutzte menschliche Natur seinen göttlichen Keim hinein gelegt. Und dieses göttliche Leben erneuert alles in uns. Es gibt dem Hinfälligen einen neuen Glanz, einen Glanz, der selbst durch den Tod nicht mehr ausgelöscht werden kann. Und weil Gott alles in uns erneuert hat, sollen wir uns überlegen, wie das Neue Jahr die Erneuerung durch Gottes Menschwerdung widerspiegeln soll. Es soll sich ausdrücken in einem neuen Verhalten, in einem neuen Blick auf mich selbst, in einem Blick auf den andern, einem Blick, der dem andern Neues zutraut. Und das Neue soll sich ausdrücken in einer neuen Sprache, einer Sprache, die nicht festgelegt und bewertet, sondern die einen neuen Horizont eröffnet, die aufrichtet und erneuert.
Die frühen Mönche haben eine konkrete Methode entwickelt, um das Neue, das durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus aus Maria in unser Leben hinein zu bringen. Evagrius Ponticus, ein Mönch aus dem 4. Jahrhundert, hat die antirrhetische Methode entwickelt, die Gegenwortmethode. Da ist z.B. ein Mensch, der das Gefühl hat: "Mit mir ist nichts los. Da ist alles durch die Erziehung verkorkst worden. Ich bin halt so. Aber Neues ist von mir nicht zu erwarten." So ein Mensch soll sich vorsagen 2 Kor 5,17: "Ist einer in Christus, ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen. Siehe es ist neu geworden." Vielleicht denken Sie: Das sind doch nur Worte. Wie können Worte mich verwandeln? Aber wenn ich diese Worte immer wieder in all das Müde und Resignierte in mir hineinspreche, dann komme ich durch das Wort in Berührung mit dem Neuen, das schon in mir ist. Auf dem Grund meiner Seele, unterhalb all des Chaotischen, Dunklen, Oberflächlichen, Verhärteten in mir ist der reine Raum der Stille, in dem das neue Leben Gottes in mir wohnt. Und wenn ich diesem Neuen in mir traue, dann fühle ich mich neu und dann wird sich auch mein Verhalten und mein Sprechen verwandeln. Es wird durch die Worte, die uns Paulus zusagt, erneuert.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Neues Jahr, dass Gott alles in Ihnen erneuert und dass Sie im Vertrauen auf das innere Neuwerden auch neue Wege finden, wie Sie Ihr Leben in die Hand nehmen, wie Sie einen neuen Anfang wagen, wie die Beziehungen neu werden, wie Sie neue Ideen in die Arbeit und in Ihren Alltag bringen. Das Jahr kann sich nicht abnutzen, wenn Sie dem neuen Leben trauen, das Gott in Jesus Christus in Sie eingepflanzt hat. Aber das Neue Jahr ist keine Garantie, dass alles gut wird. Es kann uns vieles in die Quere kommen, unsere Pläne durchkreuzen, uns niederdrücken: Krankheit, ungelöste Konflikte, Schwierigkeiten in den Beziehungen. Viele machen sich zu Beginn des Neuen Jahres viele Vorsätze. Aber oft halten sie nicht lange. Es genügt, wenn Sie das eine Bild mit ins Neue Jahr nehmen: Ganz gleich, was Ihnen widerfährt, wo Ihnen etwas gelingt oder mißlingt, was Sie voll Dankbarkeit erleben und worüber Sie sich ärgern, halten Sie alles, was Ihnen widerfährt, Gott hin, damit Gottes Liebe dahinein strömt und es verwandelt. Dann geschieht das, was wir heute von Maria feiern, dass Sie Gott geboren hat, auch an Ihnen: dann wird Gott auch in Ihrem Stall geboren, dann wird Gott in Ihrem Chaos, in all dem Unaufgeräumten und Unerledigten, in all dem Verdrängten und Abgeschobenen geboren. Dann wird alles Alte und Verbrauchte in Ihnen neu. Und dieses Neue möge hineinleuchten in alle Begegnungen, in alle Arbeit, in alle Erfahrungen und Erlebnisse, die Sie erwarten. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie neugeworden durch Gottes Geist auch zum Segen werden für die Menschen, denen Sie in diesem Jahr begegnen. Amen.“
Pater Anselm Grün OSB