Wo ist das Kind?
Predigt von Abt Michael Reepen OSB in der Ersten Lateinischen Vesper zu Weihnachten 2022
Ein Bruder sagt: „Man hat es geklaut!“
Es ist einfach verschwunden, das Kind.
Wisst Ihr, wo das Kind ist?
Es ist uns weggenommen worden.
Wir haben es uns wegnehmen lassen, dieses Kind.
Wir haben nicht genug aufgepasst.
Wir waren mit so wichtigen Dingen beschäftigt, dass wir keine Zeit für seine Botschaft hatten: Beruf, Stress, Weihnachtsvorbereitungen…
– Und kaum einer vermisst es, die Leute merken gar nicht, dass es weg ist.
Liebe Schwestern und Brüder hier in der Abteikirche und die sie über den Livestream an diesem Heiligen Abend mit uns sind, liebe Mitbrüder!
Anfang Advent habe ich unsere Brüder in der Gemeinschaft in Amerika besucht. Dort war schon alles weihnachtlich beleuchtet und geschmückt, es gab auch einen bunten Weihnachtsmarkt und überall war Santa Claus, der zum Weihnachtsmann wurde, dank „Coca Cola“, mit roter Zipfelmütze und weißem Bart, und überall hörte man den Ruf: „Ho, Ho, Ho!“ Der Weihnachtsmann bringt die Geschenke, klettert an den Häusern hoch, steht in den Vorgärten – überall sieht man ihn. Inzwischen auch bei uns!
Sie wissen ja, dass ich die Abtei Münsterschwarzach schon vor Jahren zur „weihnachtsmannfreien Zone“ erklärt habe. Was soll diese Gestalt? Haben wir uns das Christkind einfach nehmen lassen? Ist nicht die Geburt eines Kindes etwas ganz Anderes als der „Weihnachtsmann“?
Wie wunderbar ist es, in das Gesicht eines kleinen Kindes zu schauen! Da begegnet man Ursprünglichkeit, Reinheit, Frieden und Freude. Ja, da ist etwas vom Glanz Gottes sichtbar, etwas von Heil und Heiligkeit. Und unwillkürlich entlockt es in jedem, der in den Kinderwagen schaut, selbst dem Coolsten, ein Lächeln.
Ich möchte lieber in das Gesicht eines Kindes schauen als in das Gesicht eines Weihnachtsmannes, eines geschminkten noch dazu. Wobei manche Gesichter von alten Menschen wieder das Leuchten haben der kleinen Kinder. Und vom Gesicht manches alten Menschen geht ein Strahlen aus wie von kleinen Kindern: Sie sind dem Ursprung wieder ganz nahe, woher sie kamen und wohin sie gehen. Wir dürfen es hier in unserer Gemeinschaft immer wieder erleben.
Der Blick in die Augen des Kindes weckt in uns das Innere Kind. Wir reagieren so stark darauf, weil dieses Kind in uns noch da ist. Das Kind, das wir einmal waren mit unserer Ursprünglichkeit.
Ich möchte Sie einfach mal einladen: Schließen Sie, wenn Sie wollen, die Augen, und lassen Sie ein Bild aufsteigen, wie Sie als kleines Kind waren, im Alter von zwei oder drei Jahren. Stellen Sie sich vor: Der Kleine, die Kleine steht vor Ihnen und strahlt Sie an. Schauen Sie in das Gesicht, in die Augen dieses Kindes, wie es Sie direkt anschaut, ohne Scheu. Und Sie merken: Wir kennen uns! Das bin ja ich! Das ist der kleine Michael, die kleine Monika – wie ich war.
Und wenn sie wollen, beugen Sie sich zu ihm und nehmen Sie den Kleinen, die Kleine auf den Arm; setzen es auf Ihren Schoß, und lassen Sie das Kind bei Ihnen kuscheln. Spüren Sie die Unbefangenheit, das Vertrauen, die Direktheit dieses Kindes.
Wie gut tut es, diesem Kind zu begegnen, es zu spüren, – mir zu begegnen, einem Teil von mir. Diesen Kleinen, den haben wir oft vergessen in unserem Leben, weil wir so schrecklich vernünftig sind, alles im Griff haben wollen. Weil wir die Unbedarftheit, Spontaneität, Freude, Direktheit des Kindes uns nehmen ließen, man das Kind uns weggenommen hat, ich es vergessen habe.
Der und die Kleine, will uns helfen, wieder zu dieser Unbefangenheit, zu dieser Klarheit, Reinheit, zu dieser Freude zu kommen. Ja, zu diesem göttlichen Kind, das in uns wohnt. Wenn Sie wollen, drücken Sie den Kleinen nochmal, geben Sie ihm zum Abschied noch einen Kuss. Und vielleicht sagen Sie ihm: „Ich möchte Dich nicht vergessen!“ Und treffen ihn vielleicht wieder heute Abend, wenn Sie im Bett liegen oder auf der Couch sitzen. – Jetzt können Sie wieder die Augen öffnen.
Sie haben in der kleinen Übung gemerkt, wie nah wir dem Kind, diesem Christ-Kind sind. Dieses Christ-Kind ist in uns, Christus ist in uns. So kann Angelus Silesius sagen: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren“.
Wir sollten das Kind gut hüten, auf es aufpassen und es uns nicht wegnehmen lassen, durch Wegrationalisieren, durch Alles-im-Griff-haben-wollen, durch Überregulierungen, durch die schreckliche Vernunft der Erwachsenen.
Ja, wir sollen das Kind schützen und bergen wie Maria in unserer Krippe, die Pater Zacharias in diesem Jahr gestaltet hat. Wir tragen alle das Christkind in unserem Schoß, es ist nicht weg, es ist da. Weil wir da sind mit dem Kind, weil das Kind da ist!
Wenn ich jetzt das Kind in den Schoß Marias lege, nehmen Sie auch Ihr Christkind in den Schoß und singen wir ihm ein Wiegenlied.