Wer ist groß? - Der Maßstab Jesu
Predigt von P. Maurus Schniertshauer OSB am 25. Sonntag Jahreskreis.: Die lebensförderliche Seite des „Groß-sein-wollens“
Wer ist groß? Wer ist der Größte? – darüber haben die Jünger Jesu unterwegs miteinander gesprochen.
Groß sein zu wollen – groß werden zu wollen, gehört zum Menschsein dazu. Das merkt man schon bei Kindern. Kinder wollen zu den Großen gehören!
Jeder, der auch nur ein wenig mit Kindern zu tun hat, erfährt das immer wieder. Mir ist das einmal ganz deutlich aufgefallen, an dem Stolz, der die Kindergartenkinder erfüllt, wenn sie in die Schule kommen: „Jetzt gehör´ ich zu den Großen!“ – hat mir da einmal so ein kleiner Knirps voller Freude gesagt.
Und wenn groß sein und groß werden zu wollen meint, seine eigenen Fähigkeiten wachsen lassen und entfalten zu können, dann ist das auch eine gute Sache. Und in diesem Sinn wünschen wir nicht nur den Kindern, sondern auch allen Erwachsenen, dass sie groß werden!
Wer ist groß? Wer ist der Größte? – aus dieser Frage entsteht auch das Bedürfnis, sich mit anderen zu messen! „Was kann ich? Was kann der?“ – Leistungsvergleich und Wettbewerb! Davon lebt der Sport, das gibt es in der Schule, das entscheidet im Berufsleben!
Und in einem gewissen Maß ist auch das in Ordnung und gibt uns den Ansporn, uns anzustrengen und unsere Begabungen und Fähigkeiten zu entwickeln – und in diesem Sinn ist das gar nicht schlecht!
Die Gefahr des „Groß-sein-wollens“
Aber, dieses Bedürfnis, sich zu messen und der Größte zu sein, kann auch gefährlich werden.
In der Lesung aus dem Jakobusbrief, die wir heute gehört haben, geht es um Eifersucht und krankhaften Ehrgeiz, die den Frieden zerstören und zu Streit und Krieg führen. Ja, in der Frage, wer denn der Größte sei und in dem Bedürfnis, sich mit anderen zu messen, da steckt auch eine ernste Gefahr, nämlich, dass man – um selbst groß dazustehen – andere klein, verächtlich und fertigmacht!
Wogegen sich Jesus wendet, das ist nicht die lebensförderliche Seite des Groß-sein und Wachsen-wollens; wogegen er sich wendet, das ist der krankhafte Ehrgeiz und die daraus entspringende Eifersucht.
Der Maßstab Jesu: Sich auf dieselbe Ebene stellen
Was ist der Maßstab Jesu? Was macht in seinen Augen die Größe eines Menschen aus? Groß sind in seinen Augen nicht die, mit den breiten Ellbogen! Groß sind nicht die, die sich aufplustern und größer machen, als sie in Wirklichkeit sind! Groß sind nicht die, die andere klein machen, um selber groß dazustehen, sondern groß ist in seinen Augen, wer sich einlassen kann auf eine respektvolle Beziehung zu anderen, die nicht vergiftet ist durch krankhaften Ehrgeiz und Eifersucht, sondern den andern Menschen achtet, zu verstehen sucht und ihn schätzt.
Um das zu zeigen, stellt Jesus ein Kind in die Mitte und nimmt es in seine Arme! Damit wir das, was Jesus da getan hat, wirklich verstehen, müssen wir dieses Bild einmal ganz genau betrachten. Um ein Kind in seine Arme zu nehmen muss sich ein Erwachsener nämlich entweder bücken und das Kind dann hochhalten, oder er muss in die Knie gehen, um auf die gleiche Ebene zu kommen!
Und genau darin besteht auch der Hinweis und die Lehre, die Jesus seinen Jüngern damit geben will: Groß ist, wer einen anderen Menschen nicht klein macht, sondern – jetzt auch im übertragenen Sinne – hochhält! Groß ist, wer nicht von oben auf einen anderen Menschen herabschaut, sondern ihm auf gleicher Ebene und auf gleicher Augenhöhe begegnet, um ihn dann empor zu heben!
Darin also besteht in den Augen Jesu die wahre Größe eines Menschen, dass er eine gemeinsame Ebene sucht mit den andern. Darin besteht die wahre Größe der Menschen, dass sie gegenseitig ihre Größe und ihre Grenzen achten und sich helfen zu wachsen und größer zu werden!
Es mag zwar sein, dass solche Menschen nach irdischen Maßstäben nicht unbedingt für groß gelten!
Da werden bis heute noch die für groß gehalten, die reich sind an Macht, an Geld und an Prestige. Da wird die Größe gemessen nach den Maßstäben von Ansehen und Erfolg oder danach, wie sehr einer im Mittelpunkt und im Rampenlicht steht.
Der Maßstab Jesu aber ist ein anderer: Ihm geht es um die Größe des Herzens! Er setzt auf menschliche Größe, die sich in der Zuwendung zum Mitmenschen zeigt. Dass wir in diesem Sinne danach streben, groß zu sein und groß zu werden, das ist das Anliegen Jesu.
Die Größe der Liebe
Was es bedeutet, dass der Erste der Diener aller sein soll, das hat uns Jesus vorgelebt. Sein Tun lehrt uns den Maßstab dieser Liebe, die nicht kleinmütig oder von mangelndem Selbstwertgefühl niedergedrückt ist.
Seine Liebe ist wahrlich groß! Und darum dürfen auch wir unsere Fähigkeiten wachsen und groß werden lassen. In diesem Sinne ist Größe wahrlich ein Geschenk Gottes: Echte Größe ist damit gemeint, die nicht dazu gebraucht wird – oder eigentlich müsste ich richtiger sagen, missbraucht wird, um andere klein zu halten oder klein zu machen.
Wer auch andere groß sein lassen kann und ihnen zu wachsen hilft, der ist in den Augen Jesu wirklich der Größte!
Groß sein zu wollen, oder – wie wir in der Welt der Erwachsenen vielleicht eher sagen würden, Karriere machen zu wollen, das ist gar nicht so falsch! Aber es sollte, damit es in den Augen Jesu tatsächlich etwas wert ist, eine Karriere der Liebe sein.
Leo Tolstoi, der große russische Dichter, hat es einmal so gesagt: Jesus Christus lehrt die Menschen, dass in ihnen etwas ist, was sie über dieses Leben mit seinem Jagen nach Ansehen und Erfolg, über die Angst zu kurz zu kommen und alles bloß irdische Streben emporhebt. Wer die Liebe Christi begreift, hat das Gefühl wie ein Vogel, der bis dahin nicht wusste, dass er Flügel besitzt und nun plötzlich begreift, dass er fliegen und frei sein kann und nichts mehr zu fürchten braucht.
Die Flügel der Liebe sind es, die den Menschen wirklich groß machen. Dass wir uns mit diesen Flügeln emporschwingen können, darum wollen wir Gott bitten, denn er ist einer, der uns Menschen nicht klein halten, sondern wahrhaft groß machen will.