Das Ziel unseres Lebens
Predigt vom P. Jesaja Langenbacher OSB am 5. Fastensonntag.
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
sind wir noch auf unserer Lebensspur? Sind wir in Beziehung mit unserem inneren Wesen, unserer Seele? Oder haben wir uns selbst, unser Wesen, unsere Seele und unseren ureigenen Auftrag vergessen, ihn vielleicht noch gar nicht gesucht, gefunden und gelebt? Ist mein Herz, meine Seele durch meine Lebensgeschichte nicht vielmehr verdunkelt, verstockt worden, gelähmt, taub? Weiß ich eigentlich, wer ich von meiner tiefsten Mitte her bin?
Wenn wir uns jetzt schon näher auf Ostern hin zubewegen, dann geht es genau um diese Fragen. Wie kann ich von allem befreit werden, was mich belastet, von all dem, was gar nicht zu mir gehört? Wie kann ich wieder zu meinem tiefsten Wesen kommen, zu der/dem die / der ich bin? Wie geht mein persönlicher Weg der Befreiung und worin liegt das Ziel des Weges? Das ist das Thema des heutigen Evangeliums – der Passion – des christlichen Weges überhaupt: den Weg Jesu als meinen Weg der Befreiung zu erkennen und ihn zusammen mit ihm zu gehen.
Im heutigen Abschnitt des Evangeliums hat Jesus den Palmsonntag bereits hinter sich, ist schon in Jerusalem eingezogen. Auf dem letzten Wegabschnitt Jesu geht es nicht mehr darum, dass er das eine oder andere Wunder vollbringt. Wir haben heute die Landkarte vorgestellt bekommen, wie es mit Jesus bzw. mit uns jetzt weiter geht bzw. weiter gehen könnte.
Während seines öffentlichen Wirkens hat er die wesentlichen Fragen des Menschseins schon öfters beantwortet: Woher komme ich – woher kommen alle Menschen? Wer ist er, wer sind wir, wer bin ich? Wohin geht er – wohin gehen wir. Und wie vollzieht sich der Weg der Vollendung seines und unseres Menschseins? Die ersten beiden Fragen sind eigentlich schon beantwortet: Er und wir kommen alle aus dem Reich Gottes, von Gott her. Er ist und wir sind Töchter und Söhne Gottes.
Auf die Frage, wohin wir gehen, was sein und unser Ziel des Lebens ist, können wir hier auch den Epheserbrief zu Hilfe nehmen: wir sollen „alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen.“ (Eph 4,13) Das ist ein großes Programm, über das wir auch erschrecken können.
Wenn also eigentlich schon alles in uns angelegt ist, warum fällt es uns dann so schwer, den Weg Jesu mitzugehen? Im Laufe unserer Lebensgeschichte ist unser Herz, unsere Seele immer wieder mit Erfahrungen verdunkelt worden, in denen wir uns nicht geliebt gefühlt haben, in denen unser Herz verhärtet ist usw. Wir haben von unseren Vorfahren die seelischen und auch körperlichen Gebrechen und Wunden wie mit dem Blut bzw. der Muttermilch übertragen bekommen.
Die Kirche spricht hier von Erbsünde oder Erbschuld. Das haben die Eltern natürlich nicht böswillig gemacht. Auch sie haben das eine oder andere schon von ihren Vorfahren so mitbekommen. Und so sind wir mit allen unseren Erfahrungen und kulturellen, religiösen, familiären und gesellschaftlichen Prägungen zu den Menschen geworden, die wir heute sind. Vieles ist auch gut in uns. Nur – sind wir jetzt schon am Ziel angelangt? Jesus sagt nein.
Der Weg der Befreiung – dass wir wirklich ganz uns selbst und unseren göttlichen Kern leben, geht über das Loslassen: Zum einen können wir alle unsere Belastungen, das was nicht zu uns gehört, Gott in die Hände und in sein Herz legen und zum anderen können wir uns etwas loslassen, wenn wir von uns absehen und anderen Menschen etwas Gutes tun.
Das letzte ultimative Loslassen geschieht „am Kreuz“. Hier können wir rein gar nichts mehr festhalten. Hier geschieht ein Loslassen bis auf das innerste Mark hin, bis auf die Knochen … bis dahin, wo auch unsere negativen Erfahrungen gespeichert sind. Das Gute selbst, unsere Seele – oder Gott in uns – kann nicht sterben. Im Gegenteil: wenn wir all die Anteile losgelassen haben, die wir nicht sind, kann uns ein Frieden geschenkt werden, nachdem wir uns so sehr sehnen.
Dieser Prozess des Loslassens ist auch für Jesus schwierig gewesen. Auch er hat „durch Leiden“ den „Gehorsam gelernt“. Und auch seine Seele war „erschüttert“. Er konnte diesen Weg gehen, weil er immer schon die Verbundenheit mit Gott gesucht und gelebt hat … und auf dem Berg der Verklärung schon eine Erfahrung dieses Ewigen Lichtes Gottes machen durfte.
Das Ziel seines und unseres Lebens ist aber nicht das Kreuz selbst, sondern der Weg über das Kreuz zur Auferstehung – auch schon im Leben. Ganz deutlich sagt uns Jesus heute: Euch galt diese Stimme, die von der Verherrlichung, Erleuchtung und Vereinigung mit Gott sprach! Aus euch soll der Herrscher dieser Welt – alles Negative in Euch – hinaus geworfen werden! Ihr sollt wieder aufgerichtet werden und sollt aus euren Gräbern, euren Dunkelheiten, eurem Leiden befreit werden!
In jedem Jahr sind wir eingeladen, uns in diesen Prozess des Loslassens einzulassen – an dem Punkt, wo wir gerade sind: die Dinge loszulassen, die uns schaden, von sich auch mal abzusehen und den Menschen unserer Umgebung Gutes zu tun, mit Jesus in die Einsamkeit und die Angst zu gehen, uns mit seinen Jüngerinnen und Jüngern unter das Kreuz zu stellen oder sich sogar mit ihm – innerlich bildlich-symbolisch – an das Kreuz hängen zu lassen, sich mit ihm ins Grab legen zu lassen … um dann – so Gott will – mit ihm – ein klein wenig – Auferstehung zu erfahren: ein Stück der Befreiung meines Herzens, Licht in meiner Dunkelheit, Heilung in meinen Verletzungen, Freude in meiner Traurigkeit. Vielleicht darf ich ein klein wenig Auferstehung erfahren – mit meiner unsterblichen Seele und mit einem Hauch von göttlichem Frieden.
Lassen wir uns also nach unseren Möglichkeiten – und Grenzen – bestmöglich auf diesen Verwandlungsprozess ein – jetzt schon – in unserem Leben, dass wir aus unserem Raupendasein zu Schmetterlingen der göttlichen Existenz und Liebe werden. Irgendwann Christus wirklich in seiner vollendeten Gestalt darstellen und als erleuchtete und liebevolle Menschen leben, als „andere Christusse“. Amen.