In der Liturgiegeschichte stellt der heutige 1. Fastensonntag den ursprünglichen Beginn der vierzigtägigen Fastenzeit dar. Weil aber die Sonntage vom Fasten immer ausgenommen waren und man tatsächlich, um die Zeit Christi in der Wüste nachzuahmen, 40 Tage lang streng fasten wollte, wurde der Beginn später auf den Mittwoch davor verlegt, den sog. Aschermittwoch.
Die Messgesänge des 1. Fastensonntags bestehen nach ältester Tradition ganz aus Psalm 90(91). Das ist kein Zufall, denn das ursprüngliche Evangelium des Tages (Mt 4,1-11) zitiert die Verse 11-12 von Ps 90/91 und legt sie dem Teufel in den Mund, der damit Jesus in Versuchung führen will. Dadurch wird einerseits deutlich, dass die Versuchung Jesu völlig zwecklos ist, andererseits wird uns damit ans Herz gelegt, uns in der kommenden Zeit des Fastens und der Buße ganz an Christus zu orientieren und wie er intensiv zum Vater zu beten, damit wir seine Hilfe und seinen Schutz erfahren. Hören wir uns den Introitus an:
Abbildung aus: Graduale Novum editio magis critica iuxta SC 117 seu graduale Sanctae Romanae Ecclesiae Pauli PP. VI cura recognitum, ad exemplar ordinis cantus missae dispositum, luce codicum antiquiorum restitutum nutu sancti oecumenici Concilii Vaticani II, neumis laudunensibus et sangallensibus ornatum, vol. 1: de dominicis et festis, ConBrio – Libreria Editrice Vaticana, Regensburg – Città del Vaticano 2011, 60.
Antiphona (Ps 90,15-16):
Invocabit me, et ego exaudiam eum:
eripiam eum, et glorificabo eum:
longitudine dierum adimplebo eum.
Versus: (Ps 90,1):
Qui habitat in adiutorio Altissimi,
in protectione Dei caeli commorabitur.
Antiphon (Ps 90/91,15-16):
Er wird mich anrufen, und ich werde ihn erhören;
ich werde ihn herausreißen und ihn verherrlichen.
Mit der Länge der Tage werde ich ihn erfüllen.
Vers: (Ps 90/91,1):
Wer im Beistand des Höchsten wohnt,
der wird im Schutz des Himmelsgottes bleiben.
Wir erkennen sofort, dass die Worte des Introitus (Ps 90,15-16) ja an Christus selbst in Erfüllung gegangen sind: Er konnte nicht nur der Versuchung des Teufels widerstehen, sondern er wurde letztendlich aus Leid und Tod befreit. Sein Vater hat ihn verherrlicht, wovon das Ostergeschehen kündet, auf dessen Fest wir uns in der Fastenzeit vorbereiten. Zu Beginn der Fastenzeit wurde der Text unseres Introitus dafür ganz gezielt aus der Gottesrede von Ps 90/91 (Verse 14-16) entnommen und der Messfeier als musikalisch-theologischer Auftakt vorangestellt. Die Liturgie verweist damit schon auf das kommende Osterfest und die Fülle des Glücks, das sich in Christus durch seine Auferweckung durch den Vater für die Menschheit eröffnet hat. Diese wunderbare Perspektive richtet Gott Vater als Sprecher der Introitus-Antiphon also an uns als seine Kirche, den mystischen Leib seines geliebten Sohnes. Gerade in der Fastenzeit nehmen wir uns ja viel vor. Da lauern allerhand Versuchungen und Prüfungen auf uns: Wir sollen deshalb durch inniges Gebet (invocabit) mit Gott in Verbindung bleiben, denn dann dürfen wir mit seiner Hilfe – wie einst Christus – rechnen.
Der anonyme gregorianische Komponist hat diesen Introitus ganz bewusst in den 8. Kirchenton gesetzt, um den Triumph des Osterereignisses im Voraus anklingen zu lassen. Hier sticht das prachtvolle glorificábo heraus, das den Höhepunkt dieses Gesanges bildet. Das auffällige Motiv über der Akzentsilbe findet sich dann auch keinesfalls zufällig in den gregorianischen Cantica der Osternacht nach den Lesungen wieder. Ebenso ist es sicher auch kein Zufall, dass die Melodie für den Introitus des Dreifaltigkeitsfestes (Benedicta sit Sancta Trinitas) wiederverwendet worden ist: Gott will die ganze Menschheit durch seinen Sohn Jesus Christus retten und an der Herrlichkeit seiner Gottheit teilhaben lassen.
Die Melodieführung von invocabit zu Beginn des Introitus korrespondiert mit derjenigen von eripiam, um anzuzeigen, dass schon im Prozess des Betens die Hilfe Gottes erfahren werden kann. Die Kadenzen jeweils am Ende der ersten und zweiten Choralzeile über eum (beides Mal ein porrectus flexus) wollen im Klangbild deutlich machen, dass der/die Erhörte am Ende tatsächlich der/die Verherrlichte sein wird. Dann korrespondiert die Binnenkadenz-Formel bei eum nach eripiam melodisch mit dem Schluss-“eum” und gleichzeitig auch mit der Binnenkadenz bei dierum. Longitudo dierum (dt. “die Länge der Tage”) steht in der patristischen Exegese dieses Psalms (Augustinus, Cassiodor) als Chiffre für das ewige Leben: Derjenige, der Gott in seiner ganzen Existenz und besonders in der Fastenzeit durch Gebet, Fasten und gute Werke die Treue hält, wird mit Christus auch in die Ewigkeit des Vaters eingehen.
Schauen wir auf die Melodie von adimplebo in der 3. Zeile und vergleichen sie mit glorificabo in der 1. Zeile! Wir erkennen hier einen Gegensatz: Einmal verläuft die melodische Bogenbewegung nach oben als Symbol der Verherrlichung und Aufnahme in den Himmel, das andere Mal verläuft sie nach unten, um anzuzeigen, dass auch die tiefsten Tiefen und Dunkelheiten unserer Seele von der Herrlichkeit Gottes erfüllt und verwandelt werden wollen.
Im Vers des Introitus (Ps 90/91,1) spricht dann Christus selbst als das Haupt seiner Kirche zu uns und bekräftigt die vorausgegangenen Worte seines Vaters: Wer mich nachahmt und seine Hoffnung ganz auf Gott, unseren Vater im Himmel setzt – so will er uns damit sagen –, der kann allen Versuchungen trotzen und die Bedrängnisse dieser Welt geduldig ertragen, denn er wird im Schutz des Höchsten weilen und kann mit Freude Ostern entgegengehen.