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Nachrichten

Mitwirken beim Neuanfang

Predigt von Br. Pascal Herold OSB am 4. Sonntag im Advent.

 „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Dieser Vers aus dem Gedicht „Stufen“ des Schriftstellers Hermann Hesse ist einer der meist zitierten Verse seiner Gesamtliteratur. Er spricht vielen Menschen aus der Seele denn er umreist pointiert Lebensvorgänge, die einmal optimistisch ihren Anfang nahmen und im weiteren Verlauf Energie abverlangten ohne aus dem eingeschlagenen Weg auszusteigen. Der Zauber des Anfangs bewährte sich bei alledem als tragende Kraft oder stille Reserve, insgesamt dran zu bleiben. Ist ein Anfang erst einmal gemacht, geht es ans Konkrete.

Das heute Evangelium begann nüchtern mit der Zeitangabe: „Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel in eine Stadt in Galiläa namens Nazaret gesandt.“ Im sechsten Monat! Üblicherweise beginnt jede Evangeliumslesung mit der Angabe „In jener Zeit“, so eigentlich auch heute in der vorgesehenen Lesart. In dem in Griechisch verfassten Evangelium scheint Lukas auf diese Angabe Wert zu legen, wie wenn er eine indirekte Botschaft unterbreiten wollte. Der sechste Monat bezieht sich hier auf den Zeitpunkt der Schwangerschaft Elisabeths, Marias Verwandten, also gerade zu der Zeit als der Engel Gabriel Maria mit der Nachricht ihrer Mutterschaft überraschte. Auch Elisabeth wurde vom Leben überrascht, indem ihr, gesetzten Alters und kinderlos geblieben, eine Schwangerschaft vorausgesagt wurde. Von diesem unerwarteten Ereignis dürfte Maria gewusst haben; nun wird auch sie Empfängerin einer gleichartigen Botschaft. Zwei Frauen dürfen gesegneten Mutterfreuden entgegensehen.

Guter Hoffnung sein ist geradezu das Lebensglück einer werdenden Mutter und ein beglückendes Ereignis für die ganze Familie. Lukas berichtet von der übergroßen Freude beider Frauen als Maria kurz nach ihrer Empfängnis Elisabeth aufsuchte. Es drängte sie ihr Glück mit Elisabeth zu teilen. Selbst die beiden Kinder im Mutterschoß teilen deren und ihre eigene Freude miteinander. Sie springt auf die werdenden Mütter über, die sich in den Worten des Magnificat niederschlagen „Es jubelt mein Geist in Gott, meinen Retter“. Maria wirkt hier ekstatisch vom Zauber werdenden Lebens und seinem Geheimnis überwältigt: „Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.“

Der Evangelist schildert ihre Lebenssituation an dieser Stelle einzigartig. Sie nimmt im weiteren Verlauf ihres Lebens als Magd des Herrn, Frau und Mutter einen unnachahmlichen Weg. Sie wird dem Geheimnis ihrer lebenslangen Mutterschaft vielgestaltig begegnen, erfüllt von Staunen, Frohsinn, Freude und Dankbarkeit, aber auch getroffen von Unverständnis, Trauer und Schmerz.

„In den Kindertagen des geistlichen Lebens, wenn wir eben angefangen haben, uns der Führung Gottes zu überlassen, da fühlen wir die leitende Hand ganz stark und fest“, so schreibt es Edith Stein in der Zeit ihrer Speyerer Jahre, bevor sie in den Karmel eintrat und fährt fort: „Sonnenhell liegt es vor uns, was wir zu tun und zu lassen haben.“ Wie sind unsere Erinnerungen an die Zeit der eigenen Kindertage, ganz allgemein und im bildlichen Sinne an die ersten Glaubenserfahrungen? „Da fühlen wir die leitende Hand ganz stark und fest“, so die Erfahrung Edith Steins. Ich vermute, dass viele von uns ihr zustimmen und diese Erfahrung teilen könnten. Was ist daraus geworden?

„Aber das bleibt nicht immer so“, ergänzt sie. „Wer Christus angehört, der muss das ganze Christusleben durchleben, er muss einmal den Kreuzweg antreten, nach Gethsemane und Golgatha.“

Mit den Kindertagen geistlichen Lebens beschreibt sie die Folgezeit ihres überraschenden Eintritts in die katholische Kirche durch die Taufe im Alter von 30 Jahren. Als junge Frau sagte sie sich vom jüdischen Glauben los und suchte über die Philosophie Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden. Das intensive Lesen der Biografie Teresa von Avilas‘ fesselt sie eine Nacht lang. An deren Ende, gegen Morgen entscheidet sie sich zur Taufe. Sonnenhell lag es vor ihr, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie wird Lehrerin, Mentorin und Dozentin. Den Lehrauftrag konnte sie nur für eine kurze Zeit annehmen da 1933 der Nationalsozialismus ein öffentliches Leben unmöglich machte, und sie zunehmend geballt das ganze Christusleben als Karmelitin durchlebt, durchleidet, schließlich als Märtyrerin in Auschwitz stirbt.

Sie lebte in der Zeit der dunklen Jahre bis zu ihrem Tod aus der Gewissheit, dass „Gott da ist, aber Er ist verborgen und schweigt“, schreibt sie. Die Sonnenklarheit ihrer Kindertage wandelt sich in die verborgene, schweigende Gegenwart Gottes. Wie sie dieses Schweigen wohl empfindet? „Es gibt ein Schweigen, in dem die Stille herrscht, Stille, in der die Liebe wohnt, wo Gott an jener Grenze erscheint, wenn zwei Blicke einander begegnen“. Diese Erfahrung schildert Michel Quoist in der Veröffentlichung „Zuschauersein genügt nicht“. Edith Stein verstand sich nicht als die Zuschauende, sondern als sie Selbstgemeinte mit dem eindrucksvollen Beginn ihres geistlichen Weges, der an Tiefe gewonnen hatte und ihr hilft zu leben und sie beschützt. Er bewährt sich im aufrechten Blick auf das Ende, im Kontakt mit dem verborgenen und schweigenden Gott, wo er an jener Grenze erscheint, wenn zwei Blicke einander hellwach begegnen.

Gabriels Blickkontakt bewirkt in Maria, dass sie nicht Zuschauende bleibt, sondern sich als Maria, als ‚ich bin‘ erkennt. Mit dem Abschied des Engels bleibt eine Fülle von Fragen offen, auf die sie keine Antworten finden kann. „Ich bin die Magd“, ist ihre Antwort und die will genügen als Zustimmung für alle nicht absehbaren Wegstationen künftigen Lebens.

Das „Ich bin die Magd“ wird sie nicht mehr los; es bindet sie über jenen sechsten Monat hinaus in frohen und leidvollen Tagen, es stärkt ihre Identität im Tun und im Lassenmüssen, es trägt sie das ganze Christusleben hindurch und lässt sie in eine Welt hören, von der sie die Botschaft des Engels empfing. 

Zauber hat mit einem innigen, aufgeweckten und neugierig Gewordensein auf das Leben zu tun, das lockt und herausfordert, das keinen leichten und barrierefreien Weg verspricht. Wir wissen um die verwinkelten Lebenswege von so vielen Menschen, einschließlich des eigenen. Was hat sich bewährt auf diesem Weg wo es sonnenklar schien und doch nicht immer so geblieben ist? Gott macht mit uns immer wieder neu den Anfang. Wir feiern diesen Anfang jetzt unmittelbar mit seiner Menschwerdung in unserem Fleisch. Wir bleiben dabei nicht Zuschauende, sondern sind alle Mitspielende, Mitwirkende, wie du es bist und ich es bin.