Predigten

Hellhörig werden für den Notarzt Jesus

Predigt von Prior Pascal Herold OSB am 30. Sonntag im Jahreskreis.

Blind vor Ärger und Wut, blind aus Eifersucht, blind vor Enttäuschung, blind vor Liebe, vor lauter Bäume den Wald nicht sehen. Die Reihe der Gefühle ließe sich fortsetzen, die den Blick auf das Leben in diesen Gefühlslagen verfärben und das Drumherum des Alltags verschleiern. In einer dieser Stimmungslagen befanden sich auch die Emmausjünger, nichts wie weg von Jerusalem, auf dem Weg nach Emmaus um abzutauchen nach dem fürchterlichen Ereignis der Kreuzigung Jesu. „Sie waren mit Blindheit geschlagen“ so der Bericht und konnten den Auferstandenen nicht erkennen. Erst viel später, nachdem seine Gesellschaft ihnen sehr gut getan hatte, erkannten sie ihn am Brotbrechen. Wie vom Blitz getroffen öffneten sich ihre Augen und weiteten den Blick vom Karsamstag auf den Auferstehungstag und es ist Ostern geworden.

Wie die Emmausjünger urplötzlich hellsichtig geworden sind so plötzlich hellhörig animiert, reagiert Bartimäus im heutigen Evangelium. Als blinder Bettler ist er sensibilisiert auf alle Geräusche um ihn herum, was da vor sich geht und möglicherweise jemand auf ihn zukommt. Der Name Jesus elektrisiert ihn, als ob er die genannte Person persönlich kenne. So ruft er den Namen mit lauter Stimme: „Sohn Davids, Jesus, hab‘ Erbarmen mit mir“. Die geweckte Hellhörigkeit zahlt sich aus. Denn zum Ärger der Umstehenden wendet sich Jesus ihm zu und bittet ihn sogar auf ihn zu zugehen.

Es macht den Eindruck, dass Bartimäus sich dabei komplett vergisst, da er aufspringt und auf Jesus zuläuft. Wie kann es sein, dass ein Nichtsehender derart blitzschnell reagiert und blind losläuft? Woher weiss er von diesem Jesus? Warum setzt er alles dran sich in Szene zu setzen und laut zu schreien obwohl er nur einen Namen kennt? Dieser entfacht in ihm die Energie, trotz der Behinderung spontan Schritte zu tun, die sonst gut überlegt sein wollen. Man könnte fast meinen, Bartimäus sieht tatsächlich Jesus, zwar nicht physisch doch mit den inneren Augen des Vertrauens und eines optimistischen Glaubens, dass ein bekannter Notarzt wie Jesus ihn aus dem Stand heraus heilen kann. Deshalb ruft er ja ganz laut: „Hab‘ Erbarmen mit mir, Sohn Davids, hab Erbarmen“.

Wenn Notärzte im Einsatz sind bleibt keine Zeit für weitere Einsätze an Nebenschauplätzen. Jesus verlässt gerade Jericho auf dem Weg zum eigenen Notfall nach Jerusalem wo ihm die Einwohner begeistert mit Hosanna empfangen und das Reich des Vaters Davids ausrufen.

Es handelt sich hier, außerhalb von Jericho zwar nicht um einen Notfall doch das Drama der Auslieferung und Kreuzigung kommt sehr bald auf Jesus zu. Auf dem Weg bleibt er hellhörig, sozusagen in Rufbereitschaft und geht nicht achtlos oder gar blind an Bartimäus vorbei. Wie ein guter Notarzt sucht er zunächst zu verstehen was den notwendig ist und handelt nicht sofort, er lässt Bartimäus aussprechen was er denn von ihm erwartet. „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können“, so die Bitte, der SOS-Ruf, der Notschrei, „ich möchte wieder sehen können“!

Wer möchte das nicht? Sehen können! Solange das keine Probleme macht, stellt sich gar nicht die Frage. Die taucht erst auf wenn Probleme auftreten und wir uns als sehbehindert, sehgestört und reduziert empfinden. Die Not des Bartimäus ist also verständlich da wir sie selber kennen an uns, an uns bekannten Personen oder von blinden Menschen, denen wir im Alltag begegnen. Solange wir selber was tun können setzen wir Energie dafür ein. Es gibt aber auch Beispiele von Sehbehinderungen oder Erblindungen, die nicht mehr therapiert werden können oder kein Notarzt mehr helfen kann. In dieser Situation ist doch Bartimäus!

Der Bettler verlässt sich auf sein Gehör und nutzt die wenigen Sekunden, die ihm an dem Strassenrand bleiben. Hellhörig geworden legt er sich ins Zeug da eine treibende Kraft ihn drängt jetzt alles in die Waagschale zu werfen. Das Bewusstsein will sagen, es geht nicht, die Resonanz der Hellhörigkeit aber dagegenhält und Räume spürt, die das Bewusstsein übersteigen, sich dabei selbst zu vergessen und wie vom Geist geführt sich auf Unmögliches einzulassen. Diese Resonanz ignoriert den Verstand und sucht die Verbindung zum Herzen. Dort sieht Jesus den Glauben des Bettlers, seine echte Haltung und seine Lebensnot. Dieser Glaube wirkt überzeugend auf Jesus. Es braucht keine weitere Erklärung. Er schickt ihn sehend geworden auf den Weg mit den Worten: „Geh! Dein Glaube hat dir geholfen“! Wider alle Hoffnung hatte Bartimäus gehofft. Das hellhörige, wache und sehnsüchtige Warten des blinden Bettlers hat sich erfüllt. 

Zwischen hellhörig sein und wach sein liegt wohl ein Unterschied. Wachsein steigert die Aufmerksamkeit für das, was gerade passiert und dementsprechend urteilen wir; hellhörig sein stellt Zusammenhänge her, die nicht sofort ins Bewusstsein fallen aber antönen lassen, dass die Bedeutung viel tiefer verankert ist als man gerade verstehen kann.

So war es auch bei den Emmausjüngern, die hellhörig geworden sein müssen spätestens als der Auferstandene mit ihnen am Tisch saß, und dann am Zeichen des Brotbrechens ihnen das Licht des Glaubens aufgeht. Sie hätten genauso blind vor Schmerz den Auferstandenen nicht erkennen können, schwer getroffen und enttäuscht von ihrer langen Gefolgschaft, verzagt wegen der allgemeinen Situation und versunken in ihrer Traurigkeit. Aber ihr brennendes Herz und die Sehnsucht des Bartimäus machen sie wieder sehend.

  Was hilft uns in unserer Blindheit heute?

Doch auch der innere, hellhörig machende Impuls, selbstvergessen die Barrieren von schier Unmöglichem zu überspringen, wie Bartimäus den Mantel weg zu werfen, aufspringen und Zutrauen zu gewinnen, vor allem das Vertrauen in und den Glauben an den Notarzt Jesus.

Er kommt unerwartet auch auf unseren Wegen vorbei und gesellt sich oft mit unscheinbarem Blick zu uns, um die Augen zu öffnen für die innere Wirklichkeit wie bei der Mahlgemeinschaft mit den verunsicherten Emmausjüngern.